In Deutschland existiert nahezu kein Bereich des täglichen Lebens, welcher nicht rechtlich
normiert ist, so selbstverständlich auch der Tarifvertrag. Da das Tarifvertragsgesetz (TVG) im
Gegensatz zu anderen für die Regelung von Aus- und Fortbildungs- Tatbeständen relevanten
Gesetzen (vgl. S. ff) noch nicht vorgestellt wurde, soll dies hier stichwortartig nachgeholt
werden. Der Tarifvertrag regelt die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien, setzt Normen
zur Gestaltung von Arbeitsverhältnissen und regelt betriebliche und Betriebsverfassungsrechtliche
Fragen. (§1 TVG) Fragen der Aus- und Weiterbildung sind demnach tariflich regelbar.
Tarifvertragsparteien sind Gewerkschaften einzelne Arbeitgeber und Verbände von Arbeitgebern.
Daneben können noch sogenannte Spitzenverbände (Zusammenschlüsse von Verbänden) unter
bestimmten Bedingungen Tarifvertragsparteien bilden (§2 TVG). Obgleich die Regelung von
Aus- und Fortbildungsfragen den Tarifparteien offensteht, war das Engagement auf diesem Feld
bislang eher gering: "Die (berufliche) Aus- und Weiterbildung gehörte bislang nicht zu den
vorrangigen Regelungsbereichen der gewerkschaftlichen Tarifpolitik. Das hängt nicht zuletzt
damit zusammen, daß sowohl die berufliche Erstausbildung als auch die berufliche Fortbildung
und Umschulung durch gesetzliche Vorschriften (u.a. Berufsbildungsgesetz, Arbeitsförderungsgesetz) in weiten Bereichen detailliert geregelt sind ."158 Ein weiterer Aspekt, welcher tarifliche
Regelungen erschwerte, lag in den Vorbehalten der Arbeitgeber. "Einigungen auf betrieblicher
und pragmatischer Ebene zu konkreten Fortbildungsprogrammen, auch Arbeitnehmervertreter
seits initiiert, stellen in der Regel kein Problem dar,- jedoch die tarifvertragliche Festschreibung, namentlich gewerkschaftlicher Mitbestimmung, bildet eine Hürde für die Arbeitgeber."159
Trotz der genannten Widrigkeiten, besteht eine größere Anzahl tariflicher Regelungen zu diesem
Problemfeld. Um die scheinbare Vielfalt dieser Regelungen jedoch gleich im Vorfeld zu relativieren, sei folgendes angemerkt: Im Zeitraum von 1949 bis Ende 1988 wurden rund 230000
Tarifverträge geschlossen, pro Jahr kommen etwa 6000 dazu. Gültig davon sind derzeit noch
etwa 45000.160 Diese enorme Anzahl von Regelungswerken relativiert naturgemäß nicht nur die
quantitative Bedeutung der Regelungen zur Qualifizierungsproblematik, sondern gibt auch einen
eindeutigen Hinweis darauf, daß eine erschöpfende Behandlung dieses Themas in dieser Arbeit
nicht zu leisten ist, zumal eine systematische Auswertung bisheriger Tarifverträge unter dem
Kriterium Aus- und Fortbildungsregelungen meines Wissens nach noch nicht versucht wurde.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, sollen nun einige Regelungstatbestände aufgelistet werden.
Zunächst Regelungsfelder in der beruflichen Erstausbildung:
* Ausbildungsvergütungen
* Arbeitszeit
* Urlaub und Urlaubsvergütung
* Verbot bestimmter Arbeitsformen (z.B. Akkordarbeit oder gefährliche Arbeiten)
* Erstattung von Ausbildungskosten
* quantitatives Verhältnis von Beschäftigten zu Auszubildenden
* Anrechnung von anderen Ausbildungszeiten
* Regelung der Stufenausbildung
* Ausbildungs- und Versetzungspläne
* Beurteilungsverfahren
* Prüfungsbestimmungen
* Beendigung des Ausbildungsverhältnisses und Übernahme
In einigen Punkten (Lohn,Arbeitszeit und Sicherheit) sind klassisch gewerkschaftliche Themen
geregelt worden. Alle Punkte gestalten innerhalb der staatlichen Rahmenvorgaben. So sind nicht
nur die Mindestarbeitsbedingungen, sondern auch Inhalt und Dauer von Ausbildungsgängen
staatlich reglementiert (vgl.§§25ff BBiG).
Aus gewerkschaftlicher Sicht besonders erwähnenswert sind Tarifverträge zu einer überbetrieblichen Finanzierung der Erstausbildung. Dieses Ausgleichskassen- oder Fonds- Modell wird auch
in der Weiterbildung angestrebt. Tarifverträge, welche überbetriebliche Finanzierungseinrichtungen zur Ausbildungsfinanzierung initiieren, wurden vornehmlich in Branchen mit starker Präsenz
von Klein und Kleinstbetrieben abgeschlossen. So für das Bauhauptgewerbe, das Dachdekerhandwerk, den Garten und Landschaftsbau sowie das Friseurhandwerk. (letzteres ausschließlich in Bremen)
Zusammenfassend läßt sich nur geringe Spannung in den Regelungsinteressen zur Ausbildung
feststellen. Im Bereich der Weiterbildung und Umschulung, sind hingegen stärkere Spannungen
zu vermerken. Dies liegt sicher auch an der Entwicklung des Problemfeldes. So erklärt Reinhard
Bispinck alle tariflichen Regelungen zur Qualifizierung und Weiterbildung, zum Ergebnis von
Rationalisierungen: "Ausgangspunkt aller tariflichen Regelungen zu diesem Bereich sind die
Rationalisierungsschutztarifverträge."161 In diesen Rationalisierungsschutzabkommen, stellte die
Qualifikationssicherung nur einen Aspekt, neben Arbeitsplatz- und Verdienstsicherung, dar. Aus
den Erfahrungen der Auseinandersetzungen in den Jahren der Beschäftigungskrise, nähren sich
die Vorbehalte der Arbeitgeberseite, gegen gewerkschaftliche oder gewerkschaftlich beeinflußte
Mitbestimmung in Fragen des Strukturwandels. "Die Gewerkschaften konnten sich bislang nur
mühsam dazu durchringen, die technischen Entwicklungen und den Bildungsfortschritt positiv
zu würdigen."162 Die Arbeitgeber werfen den Gewerkschaften ihre ursprüngliche Kampfhaltung
gegen die Einführung von Rationalisierungstechnik vor. Die Gewerkschaften hätten "die
Mikroelektronik erbittert befehdet und als job-killer, ja als Zerstörer von Menschlichkeit,
Verantwortung und Freiheit bekämpft."163 Diese fortschrittsfeindliche Grundtendenz, welche
man in den Gewerkschaften ausgemacht zu haben vermeint, veranlaßt die Arbeitgeber zum
Widerstand gegen eine tarifliche Expansion der Mitwirkungsmöglichkeiten von Arbeitnehmer-Vertretern bei der Einführung neuer Techniken. - Die Mitbestimmung bei Qualifizierungsmaßnahmen stellt zwangsläufig eine Mitbestimmung bei der Einführung neuer Technologien dar.
Zum Zeitpunkt der Einführung einer neuen Technik stehen in der Regel die zu ihrer Anwendung benötigten Qualifikationen am Arbeitsmarkt noch nicht zur Verfügung, so daß ohne
Qualifizierungsmaßnahmen eine Nutzung neuer Techniken nicht möglich ist. Vor diesem
Hintergrund erklären die Arbeitgebervertreter gewerkschaftliches Engagement im Qualifikationsbereich: "es geht um Teilkritik und Forderungen, vor allem nach bestmöglicher Qualifizierung
für neue Anforderungen, nach Sozialverträglichkeit und nach Humanisierung der Arbeitswelt,
aber natürlich geht es auch um Machtvergrößerung (erweiterte Mitbestimmung bei neuen
Technologien)."164
Von den Gewerkschaften wird ihr Interesse an Regelungen bezüglich der Weiterbildung naturgemäß positiver dargestellt. So formuliert Jürgen Walter für die IG-Chemie:
"Da die betriebliche Weiterbildung gerade in unserem Organisationsbereich große Bedeutung
hat und hier eigene Regelungsmöglichkeiten existieren, haben wir intensiv über Lösungen nachgedacht, die zu tarifvertraglichen und/oder betriebsvereinbarungsgemäßen Abschlüssen führen
können.
Auf diesem Weg haben wir insbesondere Betriebsvereinbarungen zur betrieblichen Weiterbildung forciert, die Vorläufer, aber auch Präzisierungsinstrument für eine tarifvertragliche Regelung sein können." 165 - Die Möglichkeit zur Regelung und die Bedeutung der Qualifizierung
sind (ein) Grund für das Engagement zur Regelung. Dies scheint auf intendierte Machterhaltung
oder Expansion zu verweisen. Inhalt der Regelungen soll sein: "Es sollte ein allgemeiner
Anspruch auf regelmäßige Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen für alle Arbeitnehmer {...} im
Rahmen der Vereinbarung festgehalten werden...
Insbesondere ist es erforderlich, daß nicht nur ein allgemeiner Teilnahmeanspruch festgeschrieben wird, sondern der Anspruch sich auf regelmäßige Teilnahme richtet." 166
Gegen einen solchen individuelle Weiterbildungsanspruch verwehren sich die Arbeitgeber, mit
dem Argument der zur erfolgreichen Qualifizierung notwendigen Motivation.(vgl. S. ) Desweiteren fordert die IG-Chemie-Papier-Keramik: "... Anzustreben ist eine Formulierung, die die
Mitbestimmung des Betriebsrates über das Vorschlagsrecht [§98 BetrVG] hinaus in der Form
festlegt, daß die geplanten Maßnahmen von Geschäftsleitung und Betriebsrat zu vereinbaren
sind.
... Festlegung des Grundsatzes zur Besonderen Berücksichtigung von benachteiligten Gruppen
... Frauen ... Minderqualifizierte ... Behinderte ... ältere ... ausländische Arbeitnehmer." 167
Neben den Forderungen nach sozialem Ausgleich, dominieren eindeutig die Forderungen nach
mehr Einflußmöglichkeiten der Arbeitnehmervertreter. So auch folgende: "Instrumente zur
Kontrolle des Seminarerfolges (beispielsweise Fragebogen an die Teilnehmer) sind nur nach
Einigung mit dem Betriebsrat zugelassen." 168
Um zu illustrieren, wie diese Zielvorstellungen der Gewerkschaft(en) umgesetzt werden, soll hier
das Beispiel des Anhangs zum Entgelttarifvertrag der Deutschen Shell herangezogen werden.
Bei der Deutschen Shell AG wurde zusätzlich zu den bereits vorhandenen Arbeitsplatzbezogenen Fortbildungsangeboten, folgendes vereinbart:
"1.
Bei diesen nicht unmittelbar tätigkeitsbezogenen Qualifizierungsmaßnahmen wird dem Betriebsrat ein erweiterter Mitbestimmungsanspruch eingeräumt (vgl. S. f). Der Regelungspunkt,
welcher die Zustimmung der Arbeitgeber zu dem Regelungswerk bewirkte (neben anderem) ist
in Punkt zwei des Vertrages zu finden:
"2.
Dies bedeutet, daß die Arbeitnehmer ihre Freizeit einbringen (welche sie durch die vorangegangene tarifliche Arbeitszeitverkürzung gewonnen haben), die Fortbildung findet zeitlich innerhalb der Dienstzeit statt. (vgl. S. ) Ferner wurde im Vertrag geregelt, daß die Teilnahme
freiwillig erfolgt, die Meldung zum Kurs durch den Mitarbeiter selbst erfolgt ( nach Abstimmung mit dem Vorgesetzten) und letztlich, daß das Auswahlverfahren der Teilnehmer mit dem
Gesamtbetriebsrat abzusprechen ist. Die Tarifvertragsparteien erörtern einmal jährlich gemeinsam mit dem Gesamtbetriebsrat Verlauf und Weiterentwicklung des Programms.
Interessant sind die geplanten Inhalte der Qualifikationsmaßnahmen. Die Inhalte wurden im
Vertrag nicht geregelt, nur ein weitgehendes Mitspracherecht der Personalvertretung wurde
vereinbart. Die Inhalte wurden in einer Presseerklärung der Deutsche Shell AG170 genannt:
- PC-Führerschein
- Geschäftsenglisch am Telefon
- Betriebswirtschaftliches Denken und Handeln (für nicht Kaufleute)
- Arbeitsrechtliches Kolloquium für Vorgesetzte
Auffällig ist die großzügige Regelung von Streitfragen, auf beiden Seiten. Der Arbeitgeber
trägt die Kosten von nicht unmittelbar benötigten Qualifikationen und räumt dem Betriebsrat
über die rechtlich normierten Mitbestimmungstatbestände hinausreichende Mitwirkungsrechte
ein. Die Arbeitnehmervertretung gibt die zuvor erkämpfte Arbeitszeitverkürzung wieder preis.
Der Tarifvertrag der Metallindustrie in Nordwürttemberg/ Nordbaden 1988 wurde wesentlich
härter formuliert. "Die strategische Bedeutung dieser Regelung liegt nicht nur in der materiellen
Absicherung der Qualifizierungsmaßnahme selbst, sondern vor allem darin, daß die IG-Metall
sich in keiner Weise auf ein Kompensationsgeschäft zwischen Weiterbildung auf der einen und
Arbeitszeitverkürzung auf der anderen Seite eingelassen hat."171 Die Regelung in Nordwürttemberg/ Nordbaden bezieht sich jedoch auf die Weiterbildung aufgrund des betrieblichen Bedarfs,
welcher allerdings einmal jährlich mit dem Betriebsrat zu beraten ist.(§3 LGRTV I)172 Ob die
Unterschiede in Verhandlungsführung und Ergebnis durch Traditionen oder die wirtschaftliche
Lage der Verhandlungsparteien bedingt ist, ist nur schwer zu beurteilen. Festzustellen bleibt eine
wesentlich konfliktorientiertere Position bei den Metallern, gegenüber der (Petro-) Chemischen
Industrie.